Verfasst von Oliver Rimmler, Vice President Analytics & Consulting Services Experian DACH
Das Thema Financial Advanced Analytics erscheint auf den ersten Blick hochkomplex. Denn es sind nicht nur Faktoren zu berücksichtigen, die für Advanced Analytics-Projekte im Allgemeinen relevant sind, sondern auch branchenspezifische Faktoren innerhalb von Finanzprozessen – wie unterschiedliche rechtliche Rahmenbedingungen oder ein stärkerer Fokus auf Verantwortung und Nachvollziehbarkeit bei der Entscheidungsfindung – bis auf die Ebene von Einzelfällen. Ferner ist zu bedenken, dass Entscheidungen, die im Rahmen von Finanzprozessen getroffen werden, weitreichende Auswirkungen auf Verbraucher oder Unternehmen haben können (bspw. zu welchem Zinssatz erhalte ich einen Kredit).
Die gute Nachricht: Die Chancen sind enorm. Advanced Analytics kann und wird die Entscheidungsfindung innerhalb von Finanzprozessen noch tiefgreifender als bisher verändern. Potenziale werden aufgezeigt, Kunden besser verstanden und über den gesamten Kundenlebenszyklus sowie den Order-2-Cash-Prozess hinweg werden erfolgreichere und effizientere Entscheidungen getroffen – auch im Sinne der Kunden. Ist eine Financial Advanced Analytics Strategie (siehe Abbildung) ganzheitlich implementiert, eröffnet dies für Finanzabteilungen vollständig neue Möglichkeiten – auch bei der internen Positionierung. So können Abteilungen wie bspw. Marketing, Vertrieb, CRM und SCM deutlich stärker als bisher durch praktisch umsetzbare Erkenntnisse effektiv unterstützt werden. Ermöglicht wird dies über die abteilungs- und bereichsübergreifende Zusammenführung von Daten zur ganzheitlichen Sicht auf den jeweiligen Use Case und Kunden. Dies zahlt positiv auf die entsprechenden Abteilungs-/Bereichsziele ein und leistet damit ebenfalls einen wichtigen Beitrag zur übergeordneten Unternehmensstrategie – schlussendlich eine Win-Win-Situation im Sinne der Gesamtunternehmung.
Wie also setzen Sie Advanced Analytics erfolgreich für Finanzprozesse ein? Natürlich gibt es eine Vielzahl von Einflussfaktoren, aber ich möchte mich hier auf die sechs Schlüsselelemente konzentrieren, die für eine ganzheitliche Strategie notwendig sind und letztendlich die Grundlage für einen überdurchschnittlichen Zusatznutzen (ROI) in
1. Daten – das Herzstück von Financial Advanced Analytics
Jede Erkenntnis (=Business Insight) beginnt mit der Erfassung und Verarbeitung von Daten. Finanzprozesse erzeugen immense Mengen an strukturierten und unstrukturierten Daten, da Aspekte wie Erklärbarkeit, Nachvollziehbarkeit und letztendlich Revisionssicherheit beachtet werden müssen. Laut Veritas sind heute rund 50 Prozent aller weltweit von Unternehmen gespeicherten und verarbeiteten Daten so genannte „dunkle Daten“ (= „Dark Data“), deren Wert bislang noch nicht quantifiziert wurde. Lediglich 15 Prozent aller gespeicherten Daten gelten als geschäftskritisch im Sinne von Entscheidungen. Vor diesem Hintergrund ist für die Entwicklung einer datengetriebenen Unternehmens- und Entscheidungskultur eine systematische Generierung und Speicherung von Daten von entscheidender Bedeutung – und das beginnt bereits bei der (Weiter-) Entwicklung von IT-Systemen und Prozessen. Welche Daten als „geschäftskritisch“ gelten, kann sich jedoch im Laufe der Zeit verändern. Deshalb sind Monitoring Prozesse mit regelmäßigen Überprüfungen (etwa im Zuge von Modellvalidierungen) sowie die Implementierung von nachhaltigen Data-Governance-Richtlinien entscheidende Schlüsselelemente, die die Qualität und Quantität der Daten auch zukünftig sicherstellen.
Ein Beispiel aus der Bankenwelt: Für viele Banken gehört es zum üblichen Vorgehen, den Wert des Kunden zu berechnen, um diesen anschließend in unterschiedlichen Finanzprozessen zur Steuerung zu verwenden. Sie betrachten dabei dessen Produkte und die jeweils produktbezogenen Kontobewegungen. Zusätzlicher Mehrwert könnte jedoch auch aus weiteren Datenquellen kommen – wie bspw. Daten aus Banking-Apps oder -Portalen (Standort-, Verhaltens-, Geräte- und Login-Informationen – die natürlich nur mit der erforderlichen Einwilligung des Kunden und nach den aktuellsten Vorschriften verwendet werden). In Kombination mit traditionellen Datenquellen helfen sie dabei, den Kunden und seine Bedürfnisse besser zu verstehen.
Neben Datenmengen und zusätzlichen Datenquellen sind im Entscheidungsprozess auch Aspekte wie die Geschwindigkeit, mit der die Daten verarbeitet werden können, und ihre Verfügbarkeit zum Entscheidungszeitpunkt zu berücksichtigen. Dies gilt in besonderem Maße für automatisierte (Echtzeit-) Entscheidungen innerhalb von Finanzprozessen, denn diese Entscheidungen (z.B. Annehmen/Ablehnen/manuelle Prüfung) müssen sofort getroffen werden.
2. Tools für erfolgreiche Financial Advanced Analytics Projekte
Bei der Implementierung von Advanced Analytics in Finanzprozessen stehen nicht die technologischen Aspekte im Vordergrund – auch wenn die unterschiedlichen Hersteller anderes propagieren. Im ersten Schritt sollte über Anwendungsfälle und verfügbare Daten nachgedacht und unter Berücksichtigung der Geschäftsziele eine kohärente Strategie formuliert werden.
Tools und Plattformen müssen so ausgewählt werden, dass sie für die speziellen Anforderungen geeignet sind und den gesamten Prozess von den Rohdaten bis zur Anwendung der Modelle umfassend unterstützen. Hier besteht eine starke Wechselbeziehung zwischen allen sechs Elementen der Financial Advanced Analytics Strategie. Eine grundlegende Frage bei der Plattformauswahl ist zwangsläufig immer mit der Entscheidung zwischen Open-Source- oder kommerzieller Lösung verbunden. Weitere Fragen: Soll mit einer grafischen Benutzeroberfläche die Komplexität reduziert werden, will man lieber auf Code-Ebene ansetzen oder liegt die beste Lösung vielleicht irgendwo dazwischen? Und wie lassen sich die Ergebnisse produktiv nutzen?
Letztlich sollte man sich nicht auf die allerneueste Lösung versteifen. Ein praktikabler Ansatz für die Tool- und Plattformfrage lässt sich auch nach dem Pareto-Prinzip finden. Einige Anforderungen sind jedoch nicht verhandelbar, wie bspw. Compliance, rechtliche Rahmenbedingungen oder Anforderungen in Bezug auf Dokumentation und Nachvollziehbarkeit sowie rollenbasierte Zugriffsmöglichkeiten.
3. Methodik – Transparenz erreichen und skalierbar machen
Jedes Financial Advanced Analytics Projekt erfordert ein tiefgreifendes Verständnis über den jeweiligen Anwendungsfall, den potenziellen Zusatznutzen (ROI) und die zugehörigen Daten sowie die damit verbundenen Ziele. Unterstützung bieten hier proprietäre Vorgehensmodelle wie z.B. das Prozess-Modell CRISP-DM, das sechs Phasen in Data Mining-Projekten unterscheidet und ebenfalls auf Financial Advanced Analytics Projekte angewendet werden kann: Geschäftsverständnis, Datenverständnis, Datenvorbereitung, Modellierung, Evaluierung und Bereitstellung. Natürlich muss jedes proprietäre Modell an Ihre individuellen Anforderungen angepasst werden. Ungeachtet dessen bietet es eine gute erste Orientierung.
Nach erfolgreicher Festlegung des Vorgehens folgt die Planung und Kommunikation. Nicht selten startet das Projektteam isoliert von etwaigen Stakeholdern der Folgephasen. Die Folge sind Probleme auf der sogenannten „Last Mile“. Binden Sie daher alle relevanten Stakeholder von Anfang an ein, erklären Sie den Sinn und Zweck des Projekts sowie den zu erwarteten Zusatznuten (ROI) und halten Sie sie während der Projektlaufzeit auf dem Laufenden. Nur so stellen Sie sicher, dass sie in der Implementierungsphase mit „an Bord“ sind. Letztendlich verändern die Ergebnisse von Financial Advanced Analytics Projekten Prozesse und Arbeitsabläufe, die entsprechend vorbereitet werden müssen.
Tiefgreifende Kenntnisse von Finanzprozessen sind für den Erfolg von Financial Advanced Analytics Projekten entscheidend. Ein erfahrener Partner kann helfen Best Practices aus anderen Branchen zu übertragen und zudem die Einordnung im Vergleich zu Ihren Wettbewerbern vornehmen. So identifizieren Sie die vielversprechendsten Anwendungsfälle für den Einsatz von Financial Advanced Analytics – vielleicht sogar jene, die zunächst nicht besonders attraktiv erscheinen.
4. Menschen – Daten mit Verständnis von Finanzprozessen verknüpfen
Manchmal verliert man bei all den Fachbegriffen rund um Financial Advanced Analytics einen der wichtigsten Faktoren für die Entwicklung eines datengetriebenen Unternehmens und einer datengetriebenen Kultur aus den Augen – den Menschen selbst. Nicht nur die Technologie hat sich weiterentwickelt, sondern auch die notwendigen Rollen und Qualifikationen.
In der Vergangenheit arbeiteten Data Scientists vornehmlich an isolierten Machbarkeitsstudien – meistens getrennt vom Rest der Organisation. Sie sammelten Daten, bereiteten diese auf und interpretierten sie in ihren Labs. In einer komplexen datengetriebenen Umgebung wird es jedoch für so isoliert arbeitende Data Scientists zunehmend schwieriger bis annähernd unmöglich, einen Mehrwert (ROI) zu generieren. Dies ist einer der Hauptgründe, dass die meisten Machbarkeitsstudien auf der sogenannten „Last Mile“ scheitern. Heute werden proaktive, kreative, nutzenorientierte Teamplayer benötigt, die vom Geschäft genauso viel verstehen wie von Analysen und Daten, und in der Lage sind, konstruktiv mit anderen Stakeholdern zusammenzuarbeiten. Dies gilt auch für alle anderen Stakeholder, die Teil des Projektteams sind oder sich an Financial Advanced Analytics-Projekten beteiligen – gefragt ist offenes, kreatives und datenfokussiertes Denken.
Zur Implementierung von Financial Advanced Analytics gehört daher die Bewertung des Bedarfs an Mitarbeitern und die Entwicklung einer Talent Recruiting Strategie, um die kontinuierliche Verfügbarkeit erfolgskritischer Talente sicherzustellen und somit den Change aktiv zu steuern. Nach Ermittlung der neu hinzukommenden oder veränderten Aufgaben ist zu entscheiden, welche Posten am besten intern besetzt werden und welche von externen Partnern übernommen werden können. Das Verhältnis zwischen beiden kann je nach Zeit, Geld und Geschäftsstrategie stark variieren.
5. Change Management für erfolgreiche Advanced Analytics Projekte
Zu den am stärksten unterschätzten Aspekten für Financial Advanced Analytics Projekte gehört das Change Management. Da Daten in großen Unternehmen oft in unterschiedlichen Abteilungen gespeichert werden (Silos), bedarf es einer „Kultur der Zusammenarbeit und des Teilens“, um den Nutzen auf Konzernebene zu maximieren. Eine Möglichkeit, dies zu erreichen, besteht darin, Win-Win-Situationen zu schaffen, in denen bestimmte Abteilungen mit Analysten an der Erreichung gemeinsamer Ziele arbeiten.
Nur als Beispiel – wie wäre es, wenn der Credit Manager bereits in der Vertragsanbahnung mit einem wichtigen Kunden das Kreditlimit proaktiv neu prüfen und anpassen würde, anstatt erst nach einer Eskalation im Nachhinein? Wenn Sie die Ziele und Daten der Vertriebs- und Finanzabteilung synchronisieren und somit die Datenbestände beider Abteilungen zusammenlegen, erkennen Sie möglicherweise ungenutztes Potenzial.
Aber auch beim Change Management darf nicht vergessen werden, dass nicht nur Maschinen und Algorithmen mit den Erkenntnissen und Entscheidungen arbeiten, die aus den Daten gewonnen werden, sondern auch Menschen. Deshalb ist es unerlässlich, alle Beteiligten – auch die Mitarbeiter des Front Office – so früh wie möglich einzubinden, damit sie bereit sind, wenn es darauf ankommt. Nicht selten verzögern sich Financial Advanced Analytics-Projekte, weil Mitarbeiter nicht auf die neuen Prozesse und veränderten Arbeitsabläufe vorbereitet waren. Was lernen wir daraus? Ein offener Dialog und eine klare Kommunikation sind unerlässlich und müssen von einer konkreten Strategie begleitet werden, die die Gründe und den Mehrwert der Initiative erklärt – auch für jeden Einzelnen.
6. Betriebsmodelle für Advanced Analytics in Finanzprozessen
Das Betriebsmodell ist in Anlehnung an CRISP-DM eigentlich Bestandteil der Implementierungsphase. Da es sich jedoch um einen besonders erfolgskritischen Aspekt handelt, sollte es meiner Meinung nach gesondert betrachtet werden. Der Betrieb muss effektiv geplant werden. Beim Change Management spielt die Kommunikation eine Schlüsselrolle. Durch richtige Kommunikation lässt sich sicherstellen, dass die betroffenen Mitarbeiter während der Inbetriebnahme einbezogen werden und wissen, was sie erwartet und warum.
Ein zweiter Faktor, um die Effektivität des Modells im Betrieb auf Dauer sicherzustellen, ist dessen stetige Überwachung, Pflege und Aktualisierung. Ein statisches Modell wird seine Prognosegüte (im Vergleich zur Entwicklung) im Zeitverlauf verlieren, da sich Marktbedingungen, Verbraucher-/Kundenverhalten und Portfoliostruktur permanent verändern. Daher ist es unerlässlich, einen nachhaltigen Rahmen zu schaffen, der sicherstellt, dass die Modelle im Laufe der Zeit fortlaufend überwacht und bei Bedarf entsprechend angepasst werden. Interessanterweise wird dieser Aspekt von Unternehmen mit weniger regulierten Geschäften zuweilen außer Acht gelassen, während sich Unternehmen mit stark regulierten Geschäften (bspw. Banken und Finanzdienstleiter) der Situation sehr wohl bewusst sind.
Last but not least…
Nachdem wir Ihnen die sechs Schlüsselelemente für eine erfolgreiche Financial Advanced Analytics Strategie vorgestellt haben, fragen Sie sich vielleicht, wie Sie nun vorgehen können? Ich rate Ihnen, nehmen Sie sich ausreichend Zeit, um Ihre Strategie zu formulieren. Berücksichtigen Sie dabei mindestens die sechs Schlüsselelemente, die oben erläutert wurden. Formulieren Sie in Ihrer Strategie klar, wohin die Reise geht und nennen Sie die Beweggründe – das Warum. Danach sollten Sie sich an die Arbeit machen und unvoreingenommen prüfen, welche Datenquellen in Frage kommen. Versuchen Sie, Daten zu kombinieren, um von gemeinsamen Erkenntnissen zu profitieren. Dabei sollten Sie auf keinen Fall vergessen, dass der Faktor Mensch ebenso Bestandteil des Projektes ist wie das Change Management und die Kommunikation.