Die Krise kam in Gestalt einer Welle. Mehrere Wochen hatte sich die Bedrohung durch das Corona-Virus über der Weltwirtschaft aufgetürmt – und mit dem ersten Lockdown brach sie über ihr danieder. Personalknappheit, gestörte Lieferketten und Unsicherheit an den Finanzmärkten brachten die Konjunktur ins Wanken. Heute wissen wir: Corona war erst der Anfang. Russlands Überfall auf die Ukraine stellte die nächste Schockwelle dar. Weil Öl und Gas knapp wurden, stiegen die Energiepreise. Das war der Beginn einer Inflation, die mittlerweile zu einer Rezession geführt hat.
Aus der Corona-Schockwelle ist ein stattlicher Tsunami geworden. Gerade, weil sich parallel langfristige Trends wie Klimawandel, Digitalisierung oder der Demografische Wandel entwickeln. Oft beeinflussen sich diese Entwicklungen gegenseitig, was zu noch mehr Verunsicherung, Überforderung oder Ungewissheit führt.
Stimmungsbarometer der Wirtschaft
Der Online-Handel bekommt diese Effekte unmittelbar zu spüren. Er ist Frühindikator und Stimmungsbarometer für die Binnenwirtschaft eines Landes. Während etwa langfristige Konsumentscheidungen wie Autokäufe oder Immobilienkredite für mehrere Jahre abgeschlossen werden, wird im Netz täglich eingekauft. Ein Blick ins Portfolio der Händler kann somit helfen, aktuelle Trends frühzeitig auszumachen.
Dafür ist es notwendig, dass Unternehmen das Verhalten ihrer Kunden regelmäßig untersuchen. Das gelingt mithilfe einer Portfolioanalyse, für die zwei Ereignisarten besonders relevant sind: Externe Schocks und langfristige Trends. In jüngster Vergangenheit hat sich die Branche mit diesen zwei Szenarien gleich mehrfach auseinandersetzen müssen – häufig sogar zur selben Zeit, was die Effekte verstärkte. Es lohnt sich jedoch, bei der Analyse beide getrennt voneinander zu betrachten.
Zunächst die externen Schocks. Prominentes Beispiel unserer Zeit: Corona. In wenigen Wochen veränderte die großflächige Ausbreitung des Virus sowohl in der Wirtschaft als auch innerhalb der Gesellschaft eine Menge – mit besonderen Effekten auf den eCommerce. So erlebte die Branche einen Boom: In Zeiten des Lockdowns kam der stationäre Einzelhandel zum Erliegen, der eCommerce erfuhr Sonderkonjunktur.
Corona und der Kaufrausch
Auffällig war dabei, wann und wofür die Konsumenten Geld ausgaben. Zu den ersten großen Profiteuren der Pandemie gehörte der Online-Markt für Lebensmittel. Im Februar 2020 waren Wachstumsraten von mehr als 1000 Prozent keine Seltenheit, aber bereits im Sommer des gleichen Jahres flachten die Wachstumsraten merklich ab. Im März deckten sich die Verbraucher mit Arzneimitteln und Schutzausrüstung ein: Die Nachfrage bei Online-Apotheken stieg um fast 200 Prozent, ließ allerdings bereits im Frühjahr 2020 – mit Ende des ersten Lockdowns – wieder nach. Zu jener Zeit lagen Outdoor-Kleidung, Fahrräder oder Gartenartikel im Trend. Die Menschen entdeckten die Liebe zur Natur und machten Wanderurlaub in den Bergen.
Aber auch im Kleinen zeigt sich das veränderte Verhalten der Konsumenten: der Wochentag spielt für die Konsumlaune kaum noch eine Rolle. Waren Verbraucher in Vor-Corona-Zeiten werktags für gewöhnlich beschäftigt und tätigten Online-Einkäufe verstärkt am Wochenende, wurde während der Pandemie an allen Tagen der Woche geshoppt. Und das 24 Stunden am Tag.
Alles das zeigt: Externe Schocks wie jener durch die Corona-Pandemie haben einen Einfluss auf das Kaufverhalten von Verbrauchern – punktuell sogar einen sehr großen. Kunden passen sich der neuen Situation schnell an. Aber es wird aus den Portfolios auch deutlich, dass sich der Kaufrausch mit dem Ende der Corona-Einschränkungen zügig wieder legte. Auf den Boom im eCommerce folgte eine Zeit mit Null-Wachstum und mittlerweile sind einige Zahlen bereits vergleichbar mit denen aus der Zeit vor Corona. Für externe Schocks gilt: Viele Effekte verschwinden genauso schnell, wie sie gekommen sind.
Bei langfristigen Trends wie zum Beispiel der Digitalisierung ist das anders. Hier geht die Entwicklung deutlich langsamer vonstatten, hat auf Dauer aber einen viel größeren und nachhaltigeren Einfluss auf das Verhalten von Kunden. Das wird etwa beim Zahlarten-Mix deutlich. So lag der Anteil der Paypal-Zahlungen Mitte 2021 noch bei neun Prozent. Heute sind es bereits 19 Prozent – eine Verdopplung in nur zwei Jahren. Hat sich ein Kunde erst einmal für eine Zahlart entschieden, verwendet er sie in der Regel immer wieder.
Der Preis ist heiß
Ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal bei der Analyse von langfristigen Trends ist das Verhalten einzelner Kundensegmente. Während ein Schock dazu führt, dass alle Kunden ihr Verhalten gleichermaßen verändern, wirkt ein Trend anfangs oft nur in einzelnen, sehr speziellen Kundengruppen. Junge Menschen tendieren beispielsweise eher zu digitalen Zahlungsmethoden als ältere. Der Wohnort kann ein Faktor sein. So wird in der Stadt eher online bestellt als auf dem Land. Und auch die finanzielle Lage kann eine Rolle spielen. Wohlhabende Menschen zahlen eher mit Kreditkarte, während ärmere häufig nicht mal eine besitzen.
Ein großer Vorteil langfristiger Trends ist ihre Planbarkeit. Derartige Entwicklungen wirken oft über Jahre und können gut modelliert werden. Was sich dagegen schwerer prognostizieren lässt, sind Schocks und Trends, die sich unmittelbar bedingen. Ein Beispiel dafür ist die aktuelle wirtschaftliche Situation: Eine Rezession, die aus mehreren Schocks entstanden ist und sich zum Trend verfestigen könnte. Dennoch gibt es auch für diese Entwicklungen im Portfolio einige Indikator, die auf das Kundenverhalten schließen lassen: beispielsweise Zahlungsausfälle. Hier lassen sich aber aktuell noch keine größeren Veränderungen beobachten. Lediglich im Bereich sehr schwacher Bonitäten machen sich erste Ausfälle bemerkbar. Insgesamt scheinen die Verbraucher ihre finanzielle Leistungsfähigkeit realistisch einschätzen zu können.
Effekte auf den Online-Handel gibt es dadurch dennoch. Viele Konsumenten sind aktuell sehr zurückhaltend und zögern vermeidbare Anschaffungen deutlich länger hinaus. Das zeigt sich insbesondere im Verhalten von Bestandskunden: Vergingen Anfang 2021 noch durchschnittlich drei Monate bis zum erneuten Kauf, warten Käufer mittlerweile fast vier Monate – ein Anstieg um circa 30 Prozent. Auch der Preis spielt für Verbraucher heute eine größere Rolle. Trotz zum Teil kräftiger Preiserhöhungen bleibt die Höhe der Warenkörbewerte stabil. Kunden kaufen weniger bzw. verstärkt rabattierte Ware. Gleichzeitig steigt die Bedeutung von Vergleichsportalen in allen digitalen Geschäftsmodelle. Verbraucher lehnen Preiserhöhungen nicht nur ab, sie suchen auch aktiv bessere Angebote.
Der Boom ist vorbei
Der Online-Handel blickt in eine ungewisse Zukunft. Da das Geld bei den Kunden nicht mehr so locker sitzt, scheinen die Zeiten von Umsatz und Wachstum um jeden Preis vorbei. Erste Unternehmen haben das bereits erkannt. Während sie sich in der Vergangenheit intensiver um Themen wie Nachhaltigkeit oder ökologische Lieferkette kümmern konnten, rücken nun Preis und Kosten stärker in den Fokus. Das eine oder andere goldene Kalb des e-Commerce ist dieser Entwicklung bereits zum Opfer gefallen. Ein Mindestbestellwert für den Gratisversand etwa schien Geschichte; nun taucht er immer wieder auf. Auch kostenlose Retouren sind nicht mehr die Regel.
Neben diesen klassischen Instrumenten kann jedoch auch das Portfolio Auswege aus dieser misslichen Wirtschaftslage weisen. Deshalb sind Unternehmen gut beraten, tiefer in ihre Daten zu schauen, Erkenntnisse zu gewinnen und daraus ihr Vorgehen abzuleiten. Dann sind sie besser auf einen Schock vorbereitet und können agiler reagieren. Mit anderen Worten: Wenn die Konkurrenz von der nächsten Schockwelle überrascht und erfasst wird, können sie sie reiten, statt von ihr begraben zu werden.